Ein Lebenslauf von Kooperation

Ist Euch schon aufgefallen, dass Kooperationen ganz schön eigenartig sein können? Man könnte meinen, sie seien lebendige Wesen. Sie entwickeln ihre eigenen (Verhaltens-) Muster und manch schwer durchschaubare Macke. Sie brauchen auch Nahrung und Aufmerksamkeit, um belebt zu bleiben. Und irgendwann, so scheint es, erstarrt und zerfällt jede Kooperation.

Doch wovon nährt sich Kooperation? Ihr Nährboden ist Begegnung. Denn jede Art der Kooperation – ob zwischen Privatpersonen, Unternehmen oder Staaten – beruht auf der Fähigkeit der beteiligten Menschen, einander auf angemessene Weise zu begegnen. Wir können Anderen auf viele Arten begegnen, wir können sie als Anbieter von und Konkurrent um Ressourcen (Arbeit, Geld, Produkte,…) sehen, als Bedrohung oder als Verbündete, als Gönner oder Widersacher, als Mittel zum Zweck oder als Hindernis, als Sympathieträger oder als „Ungustl“, als Mitmensch und fühlendes Wesen, als vielschichtige Persönlichkeit, vielleicht auch als Quelle der Inspiration. Die Qualität der Begegnung kann mit der Fortdauer einer Kooperation wachsen, dennoch ist schon der erste Eindruck prägend. Respekt (lateinisch respecto: „zurücksehen, berücksichtigen“) ist die Grundvoraussetzung jeder Begegnung, es gilt einander zu sehen und uns vielleicht sogar als das zu erkennen, was wir sind.

Ist der Nährboden vielversprechend, so öffnet sich ein neuer Raum. In diesem Raum zeigen die potenziellen Kooperationspartner ein eigenartiges Verhalten. Sie beginnen miteinander zu schwingen. Was mit einer ersten Begegnung von vielleicht zwei oder drei Menschen startet, entwickelt so sein Eigenleben. Wann immer Menschen miteinander in Resonanz treten, entsteht nämlich mehr als ein bloß zufällig nebeneinander stehender Haufen von Menschen, es entsteht eine spürbare Kraft. Diese mehr oder weniger vitale, mehr oder weniger rhythmisch pulsierende Angelegenheit können sowohl die Beteiligten selbst als auch BeobachterInnen erkennen, sie zeigt sich am Verhalten der Beteiligten und scheint doch ein eigenes Etwas zu sein. Wir nennen diese Angelegenheit eine Gruppe, eine Gemeinschaft, ein System, ein „Wir“. Schon in den frühen Stunden ihres Lebens formt die Kooperation ihre erste Identität und ihren eigenen Charakter. Sie definiert ihre Grenzen, bestimmt wer dazu gehört und wer nicht. Manchmal sind die Grenzen starr und dicht, manchmal flexibel und weitgehend offen. Oft bekommt die Kooperation einen Namen, manchmal auch nur in Vertretung das Personalpronomen „wir“ („Wann sehen ‚wir‘ uns wieder?“). Ab diesem Zeitpunkt gilt es, das Verhältnis von Nähe und Distanz im Auge zu behalten, wie viel an Nähe braucht das neue „Wir“, um in Schwingung zu bleiben? Vielleicht flackert dieses „Wir“ nur kurz auf, vielleicht entsteht eine länger anhaltende Resonanz.

Nun wissen wir, dass im Gleichschritt marschierende Soldaten solide Brücken zum Einsturz bringen können. Im Juli 2011 brachte eine 17-köpfige Gymnastikgruppe mit „energischem Fitnesstraining“ sogar ein ganzes Hochhaus in Seoul zum Wanken, hunderte Menschen flohen in Panik.[1] Resonanzkatastrophe nennt man dieses Phänomen.
Auch manche Kooperation zerreißt unter den eigenen Schwingungen an inneren Rivalitäten, manch andere erstickt an gegenseitiger Umarmung, die keinen Raum mehr zwischen den PartnerInnen lässt. Eine Kooperation tut also gut darin, ihre Kräfte zu kultivieren und in Zaum zu halten. Wie ein Rahmen legen sich daher Regeln und Rollen über die Kooperation, mal werden sie förmlich ausgearbeitet, mal stillschweigend hingenommen, mal schmerzhaft ausgehandelt. Im Idealfall geben Regeln und Rolle den Beteiligten Orientierung. Sie kanalisieren die gemeinsame Kraft und verhindern unerwünschte Nebenwirkungen. Manchmal laufen sie aber auch Gefahr, das zart pulsierende Pflänzchen Kooperation zu erdrücken.

Im gelegten Rahmen und den behüteten Kanälen beginnt nun hoffentlich ein Fluss – nun gut, manchmal auch nur ein Bächlein – zu fließen. Es ist ein Fluss von Geben und Nehmen, ein ständiger Ausgleich von Interessen, Informationen und Gütern. Nun sind wieder Regeln und Rollen gefragt, meist sind lebendige Gewässer ungestraft weder in ein öd kanalisiertes Flussbett zu zwingen noch einfach sich selbst zu überlassen. Der Schlüssel für dauerhaften Fluss liegt aber in einer dynamischen Balance des Interessensausgleichs. Dieser ist nur schwerlich über Regeln und Rollen zu verordnen, vielmehr braucht es ein hohes Maß Selbstverantwortung. Die Beteiligten sollten ihre Ziele und Interessen kennen und selbst darauf achten, Ausgleich herzustellen. Wer nur gibt und niemals nimmt kann dabei die Kooperation– durch das schlechte Gewissen der anderen – ebenso gefährden wie das andere Extrem des Trittbrettfahrers. Doch Achtung, auch wer jedes Geben sofort ausgeglichen wissen will, wird dem Fluss nicht dienen – der genaue Ausgleich trennt, wie im Tauschhandel hat man etwas erworben und dafür etwas Ebenbürtiges gegeben, man ist sich nichts mehr schuldig. Ein gesundes Maß an Vorschuss und Großzügigkeit ist vielmehr gefragt.

An dieser Stelle scheint nun alles geklärt zu sein und doch fehlt uns etwas Wesentliches. Die Kooperation scheint etwas sehr Technisches geworden zu sein. Als Buchhalter führen wir Bilanzen des Gebens und Nehmens, strategisch vernünftig suchen wir win-win-Situationen, wir vereinbaren, kontrollieren und sanktionieren Regeln und Rollen. Die Währung unserer Kooperation ist das – manchmal deprimierend leicht zu erschütternde – Vertrauen. Wir sind zu BeziehungsarbeiterInnen geworden, die das Werk am Laufen halten. Wo ist die Dynamik geblieben, die spontane Vitalität unseres „Wir“?

Willkommen in der midlife-crises unserer Kooperation! Eine Lösung besteht nun darin, alles hinzuschmeißen – auch auf die Gefahr hin, sich beim nächsten Mal auf‘s Neue in Altbekanntes zu stürzen. Eine andere Lösung besteht darin, sich zurückzubesinnen auf den Ursprung der Kooperation, die besondere Qualität der Begegnung und unsere gemeinsame Geschichte wieder aufleben zu lassen. Eine dritte Lösung besteht darin, über die bisherige Kooperation hinauszugehen: Bislang haben wir gut auf das Innere der Kooperation geachtet, doch wie kann und soll sie nach außen wirksam werden?
Als hermetisch abgeschlossenes System hält sich eine Kooperation auf lange Sicht in etwa so gut im Gleichgewicht wie ein ungepflegtes Aquarium. Es gilt, sich als Teil eines größeren Ganzen zu begreifen und sich in dessen Dienst als Raum der Kreativität und Innovation zu entfalten. Die Kooperation entwickelt nun im besten Fall Gestaltungskraft, die über jene Einzelner oder starr hierarchischer Systeme klar hinausgeht. Die Kooperation erlebt ihre Hoch-Zeit, die Beteiligten erfahren Sinn und damit enorme Motivation.

Wie lange auch die Hoch-Zeit dauert, wie oft es auch gelingen mag, die Kooperation aufs Neue zu erfinden, irgendwann erreicht auch sie ihr Ende. Vielleicht wurde der Nährboden zu wenig beachtet, vielleicht ist er schlicht aufgebraucht oder unfruchtbar geworden. Vielleicht ist das „Wir“ in Regeln und Rollen erstarrt. Vielleicht wurden die Bedürfnisse der Beteiligten zu lange ignoriert – oder gerade umgekehrt in egozentrischer Nabelschau so lange vor sich hergetragen, bis niemand mehr das gemeinsame Ganze erkennen konnte. Vielleicht wurde auch einfach das Ziel der Kooperation erreicht, ihr Sinn erfüllt.
In jedem Fall lade ich Euch ein, nun einen würdigen Abschied zu feiern. Ihr habt viel Zeit und Energie in die Kooperation gesteckt, es wäre schade, wenn all dies in einem „Begräbnis 2. Klasse“ einfach unter dem Teppich bleibt. Feiert Euch selbst und einander, für all das, was Ihr zustande gebracht habt. Schreit heraus, was herauszuschreien ist – und bleibt doch selbst im Abschied in Kooperation mit Euch selbst, mit einander und mit dem größeren Ganzen, dem Ihr gute Dienste erwiesen habt.

Ein Nachwort:

Kooperationen sind vielfältig und eigenartig. Jede hat ihren einzigartigen Lebensentwurf. Dennoch finden sich zumindest Teile des geschilderten Lebenslaufs in absolut jeder Kooperation:

  • Vielleicht ist es nur eine flüchtige Begegnung, die Dich dazu anregt, Neues in die Welt zu bringen – sozusagen der One-Night-Stand unter der Vielzahl von Formen der Gattung Kooperation. Herzliche Gratulation! Vielleicht willst Du Deine Verantwortung für die nächsten Schritte dennoch mit anderen teilen?
  • Vielleicht ist Ihre Kooperation nicht langsam gewachsen, sondern bewusst aus klaren Zielen und Interessen gestaltet. Der Nährboden der persönlichen Begegnung will trotzdem entwickelt und gepflegt sein, um Vitalität, passende Regeln und einen „nährenden Fluss“ von Geben und Nehmen zu ermöglichen.
  • Vielleicht ist das identitätsstiftende Erlebnis von Gemeinschaft der eigentliche Kern Eurer Kooperation. Ich lade Euch dennoch ein, Öffnung nach außen und Ausgleich nach innen gut im Blick zu behalten. „Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche“ (Gustav Mahler).
  • Vielleicht verfolgt Ihr mit Eurer Kooperation einen größeren Sinn, wollt mit ihrer Kraft die Welt zu einem klein wenig besseren Platz machen. Bitte achtet auch auf die scheinbaren Schattenseiten, auf erdrückende „Wir-Gefühle“, Selbstausbeutung oder so manche drohende Resonanzkatastrophe. Sie zeigen an, dass Wichtiges übersehen wurde.
  • Vielleicht ist es auch an der Zeit, eine Kooperation abzulehnen oder loszulassen. Wenn etwa die Qualität der Begegnung nicht für mich passt oder der Rahmen heillos ausfranst oder erdrückend auf mich wirkt, tue ich einem gemeinsamen Anliegen vielleicht nicht Gutes. Oder wie mein Ausbildungscoach Angelika Fussenegger mir einmal sagte: „Es ist auch Kooperation, klar zu sagen: ‚Da mach ich nicht mit‘“.

Viel Erfolg!



[1] Der Standard, Online-Ausgabe vom 19.7.2011 bzw http://de.wikipedia.org/wiki/Resonanzkatastrophe